Russlanddeutsche Dörfer als Erinnerungsorte der russlanddeutschen Kultur

Passend zu Ostern startete unsere neue Facebookseite im Rahmen des Projektes zur Vermittlung der Erinnerungen an die russlanddeutschen Dörfer als Erinnerungsorte der russlanddeutschen Kultur Russlanddeutsches Dorf. Auf dem Titelbild - Heimatstube in Tyumen / Музейный уголок в Тюменском центре немецкой культуры. Frohe Ostern! AIKO e.V. dankt dem Land NRW für die Förderung unseres Projektes durch die Landeszentrale für politische Bildung des Landes NRW im Jahre 2018. Warum geht es in unserem Projekt um die russlanddeutschen Dörfer? - Denn die meisten Deutschen wohnten auf dem Land.

"Die Verstädterung, also der Anteil von Stadtbewohnern an der Gesamtbevölkerung, unter den rußlanddeutschen Kolonisten war generell gering: Sie betrug nach den Daten der Volkszählung von 1897 im Wolgagebiet 3,63 Prozent (bei einer Bevölkerung von 390.864 Deutschen), im Schwarzmeergebiet 6,23 Prozent (bei 377.798 Deutschen), in Wolhynien 1,17 Prozent (bei 171.331 Deutschen). Es handelte sich also um eine weitgehend dörfliche Bevölkerung", so Peter Rosenberg in seinem Bericht „Die Sprache der Deutschen in Rußland“ (2001), er zitierte dabei wolgadeutschen Linguisten Georg Dinges (1927).

Auch in UdSSR wohnten meisten Deutschen auf dem Land – vor allem wegen der Deportationen während des Krieges und administrativen Barrieren. Erst in den 70er Jahren konnten viele deutschen Einwohner aus den Dörfern in die Städte umsiedeln, denn sie konnten in den Städten eine bessere Lebensqualität erzielen. Und am Ende 1980er änderte sich die Struktur der Bevölkerung: in Kasachstan wohnten 51 Prozent der Deutschen auf dem Land und in Russland 46,5 Prozent (in UdSSR insgesamt 47,3% - nach der Volkszählung 1989).

Es gab in der UdSSR auch größere Siedlungen mit überwiegend deutschen Einwohnern: Roschdestwenka mit mehr als 4 Tausend Einwohnern und 68 Prozent Deutschen im Gebiet Zelinograd, Konstantinowka mit 3576 und 77 Prozent Deutschen im Pawlodar, Orlowo mit mehr als 2 Tsd. davon 95 Prozent Deutschen in der Region Altai (Viktor Krieger. Kolonisten, Sowjetdeutsche, Aussiedler: eine Geschichte der Russlanddeutschen. Bonn 2015. S.147). 

Russlanddeutsche
 Dörfer
Gebiet Einwohner
insgesamt
Deutsche
Roschdestwenka  Zelinograd 4,1 Tsd. 68 %
Konstantinowka Pawlodar  3,6 Tsd. 77 %
Orlowo  Altai 2 Tsd. 95 %

Dies widerspiegelt sich auch im Wappen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland - die gelbe Ähre und der schwarze Grund,- das 1959 entstand. Die Ähre ist Symbol der Landwirtschaft, in der die meisten Russlanddeutschen tätig waren, und der schwarze Grund, auf dem sie ruht, ist vor allem Symbol der schwarzen Erde, die zur Grundlage ihres Wohlstandes in Russland wurde.

Die Geschichten von einigen russlanddeutschen Dörfer und Kolonien sind relativ gut erforscht wie z.B. von Mariental. Der Geschichte der Kolonie Mariental sind die Aufzeichnungen von Anton Schneider gewidmet, der 1798 in der wolgadeutschen Kolonie geboren wurde. Sie gewähren einen Einblick in die allgemeine Entwicklung und Verwaltung der deutschen Kolonien und in die Geschichte des Katholizismus im Wolgagebiet der Niederlassung der Deutschen an der Wolga bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und gehören mit zu den ältesten und wichtigsten Quellen zur Geschichte der der Wolgadeutschen. In seinem Buch "Mariental XVIII. – XIX. Jahrhundert (Wolgadeutsches Gebiet)" sind nicht nur Beschreibungen der Mißjahre und schwieriges Leben von Kolonisten, sondern auch romantische Verse über das idyllische andere Leben zu finden: „Obst und Wein wächst in der Menge, / Trauben, Beeren wachsen auch. / Alles, was man wünscht, das hänge / An den Zäunen, Baum und Strauch“. (Anton Schneider. Aus der Geschichte der Kolonie Mariental an der Wolga. Bearbeitet und herausgegeben von Victor Herdt. Göttingen 1999; Anton Schneider. "Mariental XVIII. – XIX. Jahrhundert". viademica.verlag, Berlin, 2014. S.258-9) .
Aus der jüngsten Geschichte und neuen Publikationen zu diesem Thema ist auch das Buch zu erwähnen: Obholz A. Die Kolonie Mariental an der Wolga. Das Leben der Wolgadeutschen Kolonisten in der Kolonie Mariental von der Gründung 1766 bis zur Verheerung 1941. 2.Auflage. Hrsg. Historischer Forschungsverein der Deutschen aus Russland e.V. Nürnberg, "Standartu spaustuve", 2014.
Marientaler treffen sich auch heute in Deutschland, um der Vorfahren zu gedenken, um Sitten und Bräuche an die Nachfahren weiterzugeben: https://www.facebook.com/RusslanddeutschesDorf

In der Mitte des 19. Jh. gab es in Russland rund 500 deutsche Kolonien. Die meisten Kolonisten - 76 Prozent - waren Lutheraner. Religion spielte eine prägende Rolle in den Kolonien. Im Zentrum des Dorfes befand sich der Kirchplatz. Auf einer alten Postkarte ist eine große prachtvolle Kirche zu sehen: http://volga.niedermonjou.org:8000/photo/NM_color_funk.html

In Deutschland werden die Traditionen der russlanddeutschen Dörfer nicht vergessen. Vor allem von den Spätaussiedlern selbst und ihren Organisationen. Ein gutes Beispiel ist dafür eine Tafelausstellung des Museumsdorfs Cloppenburg "Ein Stück Daheim. Spätaussiedler im Oldenburger Münsterland", die der Heimatverein der Deutschen aus Russland in Molbergen mitgestaltet hat. Im Herbst 2017, nach ihrer Präsentation in Cloppenburg, übernahm die AG für Kulturpflege beim Heimatverein der Deutschen aus Russland - Molbergen die Tafel-Ausstellung und bemüht sich diese zu fördern.

Die Traditionen der russlanddeutschen Dörfer werden auch im heutigen Russland nicht vergessen. Vor allem von den Russlanddeutschen selbst. Ein gutes Beispiel sind die ethnokulturellen Sprachplattformen in vielen Regionen Russlands, wo vor allem Ruslanddeutsche leben und Kinder ihre Kenntnisse über die Geschichte, Kultur und das Alltagsleben der Russlanddeutschen vertiefen. In Aleksandrovka bei Omsk kamen die Kinder der Geschichte ihres Dorfes näher, wo in diesem Jahr ihr 125. Jubiläum gefeiert wird. Außerdem lernten sie die deutsche Küche kennen und erfuhren denkwürdige Geschichten des Dorfes Alexandrovka. Die Teilnehmer besuchten auch das nach Alexander Wormsbecher benannte Museum der Geschichte der Russlanddeutschen: https://www.facebook.com/RusslanddeutschesDorf

Das russlanddeutsche Dorf spielte eine große Rolle und war nicht selten ein Ort für die wichtigen politischen Veranstaltungen. So fand z.B. im Dorf Schilling im September 1917 der zweite Kongress der Kreisbevollmächtigten statt, wo die Frage politischer und kultureller Selbstbestimmung (national-kulturellen Autonomie) diskutiert wurde. Im Februar 1918 wurde auf der Konferenz im Dorf Warenburg eine Forderung nach einer territorialen Autonomie gestellt. Im Oktober 1918 wurde dann die Arbeitskommune genehmigt, die zur Gründung der russlanddeutschen Wolgarepublik führte.

Viele deutsche Kolonisten zeigten ihre Abneigung gegen das bolschewistische Regime. Besonders die Bewohner der Wiesenseite an der Wolga waren gegen die vielen bolschewistischen Maßnahmen. Die Mobilisation der Männer in die Rote Armee stieß auf erbitterten Widerstand in den deutschen Kolonien. Im Januar 1919 kam es zum Aufstand im Dorf Warenburg. Helmut Höfling schilderte in seinem Roman "An der Wolga will ich bleiben: Bilder einer versunkenen Welt" (2013) Chronik des erbitterten Aufstandes. "Das war die so viel beschworene bolschewistische Autonomie der Wolgadeutschen", resümierte der deutsche Schriftsteller.

Religion bestimmte das ganze Leben der Russlanddeutschen auch in den ersten Jahrzehnten der kommunistischen Regime. „Meine Eltern, - erinnerte Klara Metzler über ihre Kindheit in der deutschen Kolonie Nischnjaja Dobrinka, - waren gläubige Lutheraner und wir, Kinder, mussten immer beten und Gotteslieder singen. Ich erinnere mich heute noch an das Gebet: Ich bin klein / Mein Herz ist rein / Kann Niemand drin wohnen / Als Jesus allein ...“ Aus Erinnerungen von Klara Metzler und ihrer Cousine Lea Meier über ihre Kindheit in Nischnjaja Dobrinka an der Wolga: „Alle hatten viele (bis 8-16) Kinder... In der Familie meines Großvaters, mütterlicherseits, saßen 36 Mann am Esstisch. Die Familie meines Uronkels väterlicherseits wohnte in einem großen Haus mit 42 Personen. Später nach der Vertreibung der Deutschen ist aus diesem Haus ein Kinohaus geworden“. Der Erinnerungsschatz der Spätaussiedler ist heute von besonderer Bedeutung für die russlanddeutsche Geschichte, da wegen den staatlichen Repressionen diese Geschichte viele Jahrzehnte verloren gegangen war.

Dr. Viktor Krieger widmet seine aktuelle in Düsseldorf 2018 erschienene Broschüre "Rotes Deutsches Wolgaland" der Geschichte des "einst eigenständigen, russländischen bzw. sowjetischen Volkes". Seine populärwissenschaftliche Darstellung der „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen" hilft besser das Leben der Deutschen im Wolgalande zu verstehen.

Die ersten sowjetischen Traktoren in der UdSSR entwickelten russlanddeutsche Ingenieure bereits 1921. Dieses Bild wurde 1934 aufgenommen und in Wikimedia Commons ist zu sehen - Traktor "Kommunar" zieht den Mähdrescher durch das Feld in Ukraine:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Combine_harvester_Kommunar.jpg
Die modernen Zugmaschinen waren in vielen deutschen Dörfern im Einsatz zuerst vor allem in Ukraine.

Nach dem Angriff von Hitler-Deutschland am 22. Juni 1941 wurden alle Russlanddeutschen verdächtige Verräter genannt und am 28. August 1941 folgte der erste Erlass zur Deportation aller Wolgadeutschen. „Kaum hatten am 1. September 1941, nachmittags, die 5., 6. und 7. Klassen den Schulunterricht begonnen, da kamen bewaffnete Soldaten auf Autos nach Neu-Norka. Sie umstellten unser Dorf und ließen niemanden hinaus“, - so erinnerte sich Karl Koch. Nach der Deportation der Russlanddeutschen sind deutsche Dörfer verschwunden, da deutsche Bewohner deportiert wurden. Einige Dörfer sind für immer verschwunden wie beispielsweise Neu Norka. Seit der Deportation der Deutschen existiert dieses Dorf nicht mehr: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D0%9D%D0%BE%D0%B2%D0%B0%D1%8F_%D0%9D%D0%BE%D1%80%D0%BA%D0%B0_-_panoramio.jpg?fbclid=IwAR1qUMQBC3G7oImjJw5YofWilh__VmmAFKP5DUoG2sxiNu0UiIUpta87hVE

Literatur über die russlanddeutsche Geschichte und Kultur ist heute vielfältig. Nachdem in der Sowjetzeit das totale Verbot auf die russlanddeutsche Literatur galt, kam es Ende der 80er Jahre zum Ausbruch der Forschungen in diesem Gebiet. In den 90-en Jahren erschienen viele Bücher. Eins von vielen wurde vor 20 Jahren geschrieben und wie viele andere nur in einer relativ kleinen Anzahl der Exemplare veröffentlicht. In diesem Buch geht es auch um die russlanddeutschen Dörfer und die Traditionen. Auf dem Titelbild ist ein altes Bauernhaus in einem sibirischen Dorf zu sehen, das der bekannte Maler Alexander Miller malte.

Zahlreiche russlanddeutschen Dörfer sind im Register der deutschen Siedlungen Russlands gut vertreten: http://siedlung.rusdeutsch.ru/de/Siedlungsorte/49?c=1
In diesem interessanten und sehr fundierten Projekt der IVDK sind viele deutsche Siedlungen katalogisiert und beschrieben.

Es gibt viele interessanten Web-Ressourcen zu russlanddeutschen Familien- und Dorfgeschichten. Hier ist eine: http://hutorschell.com/ru/
Der Autor des Blogs schreibt: „Jeder Mensch will ihre Geschichte wissen. Hier ist meine… / Каждый хочет знать свою историю. Вот моя…“

Hier ist noch eine eine Webseite, die Waldemar Penner seinem Heimatdorf Iwanowka in Russland gewidmet hat. Er arbeitet hauptberuflich als LKW-Fahrer und ehrenamtlich betreut seit 2002 seine private Webseite über das Dorf: https://www.iwanowka.de/zusatzse…/aktuell/pages/treffen.html Waldemar Penner schreibt, dass "wir das gemeinsame Leben in unserem Dorf Iwanowka für viele Jahre im Gedächtnis behalten". https://www.iwanowka.de/indexseite/pages/deutsch.html Die ehemaligen Dorfbewohner von Iwanowka treffen sich in Deutschland und pflegen weiter ihre Traditionen: https://www.iwanowka.de/zusatzseiten/aktuell/pages/treffen.html?fbclid=IwAR3YblWefHVXEScUI9Y0lBPKrJS9h-M1KsW3co65Cbk7KVL234V542Tz-b8
Das sibirische Dorf ist auch in der Online-Enzyklopädie Wikipedia vertreten: https://de.wikipedia.org/wiki/Iwanowka_(Omsk)

Noch ein deutsches Dorf im Internet zu finden - Kitschkas im Ural. Auf der Webseite http://www.kitschkas.de/ ist auch seine Geschichte gut beleuchtet. Sie wurde von Alexander Petkau mit der Unterstützung von Schulabsolventen Abschlussjahr 1984 und Organisationskomitee Dorftreffen 2011 erstellt und weiter gepflegt. In Kitschkas gibt es sogar ein Dorfmuseum der Deutschen. Mit der Sammlung von Exponaten wurde 1989-1990 angefangen...

Eine schöne und sehr interessante Webseite über ein Dorf wurde von Heinrich Olfert erstellt, der sie weiter pflegt: http://sepai-kanzerovka.de Sepai-Kanzerovka ist ein plattdeutsches Dorf im Südural. Hier ist etwas traurige Geschichte eines im Verschwinden begriffenen Dorfes - Das Ende des Dorfes: http://sepai-kanzerovka.de/geschichtedesdo…/dasendedesdorfes

Hier ist noch eine Webseite, die dem Dorf bzw. Kolchos mit Namen „30 Jahre Kasachische SSR“ gewidmet hat: https://30letkasachstana.de.tl/Home.htm Sie wurde von Andrej Sperling erstellt. Es geht um eine Zentralsiedlung und einen berühmten Kolchos in Kasachstan...

Von besonderem Interesse sind Internetquellen in den USA zu der russlanddeutschen Geschichte. Sie ist im englischsprachigen Internet sehr gut präsent. Einige Webseiten sind einzelnen deutschen Kolonien an der Volga gewidmet. Auf der Webseite, die an die Kolonie Niedermonjou gewidmet ist, werden zahlreiche Fotos, Chroniken u.a. veröffentlicht. Auf dieser Webseite werden beispielsweise auch wichtige Internetquellen aufgelistet: http://volga.niedermonjou.org:8000/links.html

Bei der Vorbereitung der Tagung über die russlanddeutschen Dörfer und u.a. über das Dorf Blumenfeld haben wir entdeckt, dass nur wenige russlanddeutsche Dörfer in den deutschsprachigen Berichten in Wikipedia zu finden sind. Das Dorf Zwetnopolje/ Blumenfeld ist ab jetzt in der Online-Enzyklopädie Wikipedia vertreten: https://de.wikipedia.org/wiki/Zwetnopolje

In einem schönen Bericht von Moritz Gathmann und Christian Frei, welcher ein Teil des wundervollen Blogs "Buterbrod und Spiele" ist, geht es um die Russlanddeutschen ("deitsche Leit") in Rosental, Alexandrowka, Blumenfeld, und wie sie alle heißen, die deutschen Kolonistendörfer im Gebiet Omsk: http://www.buterbrod-und-spiele.de/die-deitschn-leit-von-blumenfeld/?fbclid=IwAR17WB0viXgRkwmTrlRsX8dYWAD60g1KQZSs3-OO06H5ZHKu4C9Lr4ZUeSY
Wer heute Fotografien der deutschen Dörfer in Sibirien betrachtet, hat meist schon zahlreiche Bilder im Kopf. Christian Frei fotografierte das idyllische Ort, wo auch heute Russlanddeutsche leben. So schön kann ein idyllischer Ort sein, wenn man die entsprechenden Schauplätze auswählt und mit Mitteln der Bildkomposition und Lichteinfall eine besondere Aura erschafft.

Auch Fotos aus privaten Sammlungen von ehemaligen Bewohnern des Dorfes Blumenfeld haben einen besonderen historischen und ästhetischen Wert und sie sind authentisch.

Im Rahmen unseres Projektes wurde eine Dokumentation mit Fotos aus privaten Sammlungen von ehemaligen Bewohnern des Dorfes Blumenfeld aus Russland vorbereitet. Diese Dokumentation beinhaltet einige Ergebnisse des Projektes des Vereines AIKO e.V. zur Vermittlung der Erinnerungen an die russlanddeutschen Dörfer als Erinnerungsorte der russlanddeutschen Kultur am Beispiel des Dorfes Blumenfeld.